Nach der Lektüre dieses Threads kam in mir die Frage auf, was diese „musikalische Glaubwürdigkeit“, ein abstrakter Begriff, welcher in dieser oder jener Form immer wieder aufkommt, denn nun eigentlich ist. Ich hoffe, damit eine Diskussion starten zu können, anhand deren Ergebnisses wir hoffentlich eine gemeinsame Grundlage für künftige Diskussionen haben werden.
Vielleicht sollten wir uns zunächst die Frage stellen, wie man einen Künstler im Allgemeinen und Herrn Sinatra im Speziellen in dieser Hinsicht überhaupt zu definieren hat. Ist er (auf Künstler allgemein bezogen) Künstler geworden, um sich selber zu verwirklichen bzw. auszudrücken, weil er eine "Message" hatte oder aber sieht er sich zuallererst als Unterhalter, der seiner Zielgruppe eine Dienstleistung feilbietet und seine Darbietung infolgedessen den (mutmaßlichen) Wünschen seiner Hörer anpasst? Ggf. sollte man sich auch vor Augen halten, wie Musik auf den Hörer rein wissenschaftlich gesehen eigentlich einwirkt. Der emotionale Wert einer musikalischen Darbietung entsteht nicht beim Interpreten, sondern beim Rezipienten, also im Ohr bzw. Gehirn des Zuhörers. Oder simpel gesagt: Die „Dienstleistung“ muss dem Freier gefallen, nicht der Hure. Und ob der einzelne Künstler nun Dienstleister ist oder nicht: macht das die Musik deswegen automatisch schlechter? Liebes Publikum, kann man von einem Künstler erwarten, dass er nur solche Nummern vorträgt, deren Inhalt er genau so schon einmal erlebt hat und somit haargenau nachvollziehen kann? Und wenn das so ist, sollte man dann nicht dieselben Maßstäbe an den Autor, sprich den Textschreiber stellen? Auch werden, so scheint mir, diese Maßstäbe fast nur im Musikgenre angewandt. Niemand käme etwa auf die Idee, eine Vorführung von Hamlet zu boykottieren, weil die mitwirkenden Schauspieler selbst keine ähnliche Tragödie erleiden mussten und somit „unglaubwürdig“ wären.
Eine Interessante Frage ist sicherlich, wie man hier Frank Sinatra, der ja von jeher „nur“ Interpret von Fremdmaterial war, einordnen muss. Hierbei sollte man nicht vergessen, dass er zumindest auf der Bühne offenbar ein begnadeter Schauspieler war, der gerade noch ein lebensfrohes Swingstück singt, nur um im nächsten Augenblick sehr überzeugend einen herzzerreißenden „Torch-Song“ vorzutragen. Auch frage ich mich, ob unter den genannten Gesichtspunkten der reife und sogar der „alte“ Sinatra, der das alles schon so oder ähnlich erlebt hat, nicht von jeher eine größere Glaubwürdigkeit besitzt als der etwas verträumt-naive Jungspund. Liebe Diskutanten, was ist etwa davon zu halten, wenn der junge Sinatra vom „Stormy Weather“ singt oder vom Barkeeper „One for his baby and one more for the road“ verlangt und ihm von seiner Verflossenen erzählt?
Ein interessantes Thema und Potential für hunderte wunderbarster Threadseiten.
Thorsten Bode
Züchtige mich, Herr, - doch mit Maßen und nicht in deinem Grimm, auf daß du mich nicht aufreibst.
Oh meine Damen und Herren - ein in der Tat hochinteressantes Thema, welches der Kollege uns hierorts offeriert. Ein weitgefasstes Thema noch dazu - hierüber lässt sich wahrlich bestens schwadronieren. Unnötig zu sagen, dass dies Thema wieder einmal vollsten Einsatz abverlangt, körperlich schon wegen des Tipp-Aufwands, geistig sowieso und ohne Frage. Teure Mitstreiter, es wird sich kaum vermeiden lassen, dass wir unsere geistigen Kapazitäten angesichts des Themas bis an die äußerste Grenze belasten werden müssen, um ihm zumindest halbwegs gerecht zu werden.
Ist er (auf Künstler allgemein bezogen) Künstler geworden, um sich selber zu verwirklichen bzw. auszudrücken, weil er eine "Message" hatte oder aber sieht er sich zuallererst als Unterhalter, der seiner Zielgruppe eine Dienstleistung feilbietet und seine Darbietung infolgedessen den (mutmaßlichen) Wünschen seiner Hörer anpasst?
Ich mag zunächst nicht allgmein werden, sondern meine Sicht der Dinge betreffend Sinatra darstellen: Ich denke doch, dass Zweiteres zutreffender ist. Sinatra sah den Sangesberuf wohl einerseits als Berufung, andererseits (und wohl in der Hauptsache) freilich auch als willkommene Möglichkeit des sozialen Aufstiegs, verbunden mit allen Annehmlichkeiten, welche sich daraus ergeben. Seine Arbeit war sicherlich immer zielgruppengerichtet (man denke nur an die hunderte romantisch gefärbten Aufnahmen der Columbia-Phase, ganz speziell eingedenk der Tatsache, dass die ersten Jahre seiner Tätigkeit für dies Label mit den Kriegsjahren zusammenfielen. Hier wollte man sicherlich gewisse Bedürfnisse in der Bevölkerung musikalisch bedienen, was Sinatra in weiterer Folge dann fast zum Verhängnis wurde, als nämlich mit Ende des Krieges der Publicumsgeschmack sich wandelte und plötzlich der Bedarf nach Tröstung und Realitätsflucht in Form romantischer Balladen nachließ - Sinatra kam aus der Mode und gottlob, der Barde war umsichtig genug, um sich nach einer Phase der Orientierungs- und Erfolgslosigkeit später bei Capitol musikalisch neu zu positionieren, nämlich mit einer teilweisen Hinwendung zu vitaleren, jazzmäßigeren Ausdrucksformen).
Späterhin hat der Barde also ebenfalls seine Arbeit nach dem Massenpublicum ausgerichtet, in den 50er-Jahren kam ihm dabei sehr entgegen, dass in diesen Zeiten künstlerischer Anspruch Massentauglichkeit (noch) nicht zwangsweise ausschloss. Hier konnte sich Sinatra künstlerisch voll entfalten und sein Faible für anspruchsvolle Unterhaltungsmusik ausleben ohne deswegen zum Minderheitenprogramm zu werden. Golden Tage, meine Damen und Herren, goldene Tage! In der zwoten Hälfte der 60er Jahre dann richtete sich Sinatra ganz besonders nach dem Publicumsgeschmack und verfiel sogar darauf, nichtiges Songmaterial aufzugreifen, sofern die Aussicht auf kommerziellen Erfolg bestand. Möglicherweise schimmern hier auch die Traumata der Erfolgslosigkeit Ende der 40er, Anfang der 50er Jahre durch: Sinatra wollte unter allen Umständen am Ball bleiben und gefallen, nicht noch einmal in der Versenkung verschwinden - sei es auch um den Preis der teilweisen künstlerischen Selbstaufgabe.
Dass in dieser Periode die Dienstleistung sich fast ausschließlich an den (mutmaßlichen) Neigungen des »Freiers« orientierte, darf getrost als Tatsache hingenommen werden - manches, was für Sinatra ein kommerzieller Erfolg war, ist ihm als Künstler in engerem Sinne durchaus sauer aufgestossen, Sie alle wissen um des Barden kaum verhehlte Abneigung Strangers In The Night gegenüber.
Für mich stellt Sinatra (in seinen besten Tagen) die ideale Kombination von Künstler und Dienstleister dar. Er stellte hohe Ansprüche an das musikalische Material und hohe Ansprüche an sich selbst bei der Interpretation desselben und er verfügte über die künstlerischen Ausdrucksmittel, diesem Anspruch auch vollends gerecht zu werden, anders als in den Jahren nach 1970, wo dies ganz und gar nicht mehr der Fall war - gleichzeitig erwies sich dieses »anspruchsvolle« Konzept auch noch als kommerziell einträglich, sodass man in diesem Zusammenhang sogar die Frage aufwerfen kann, inwieweit nicht nur Sinatra dem Publicum, sondern das Publicum auch Sinatra entgegen kam. Waren die anspruchsvolleren Capitol-Werke erfolgreich, weil im Trend der Zeit und das Publicum dieser Zeit für anspruchsvolleres Songmaterial besonders empfänglich oder war Sinatra ein Künstler/Dienstleister von solcher Anziehungskraft, dass er gewissermaßen bestimmte, was dem Publicum gefiel? Oh meine Damen und Herren - Sie erkennen aus diesem Einwurf die schier grenzenlose Komplexität unseres Themas.
Ein Satz nur vorweg zur oben angeklungenen These, wonach vielleicht gar der alte Sinatra überhaupt der glaubwürdigere sei: Diese These wird sich mit Sicherheit nicht halten lassen, meine verehrten Leserinnen und Leser. Oh nein!
Meine Damen und Herren, dies einige erste und weitgehend noch spontan geäußerte und noch ungeordnete Gedanken zum Thema, welches - voll ausgekostet - ein mehrbändiges Druckwerk zur unbedingten Folge hätte. Verehrtes Publicum, frohes Schaffen bei der Aufarbeitung des Themas - Sie werden noch von mir hören, dessen darf und kann ich Sie - Sie alle - versichern.
Sehr geehrte Damen und Herren Leserinnen und Leser - Sie befinden sich in einer Kommunikationseinrichtung, welche den ENTERTAINER OF THE CENTURY (mit anderen Worten SINATRA, SINATRA und nochmals SINATRA) in ersprießlicher Weise thematisiert wissen möchte. Geschätztes Publicum: Diese Einrichtung ist in der Tat so hochgradig erquickend, so ungemein gastlich, der Wohlfühlfaktor so enorm hoch, dass es kurzum nichts Geringeres denn eine wahre Lust ist, sich hierorts aufzuhalten und sich durch die mannigfaltigen Rubriken zu bewegen! Sehen Sie sich gut und in aller Ruhe um und Sie werden - darauf mein Wort - nicht umhinkommen zu sagen: "Hier ist es schön, hier will ich bleiben."
*** Wertes Publicum: FRAU CHARLOTTE ROCHE ist eine GÖTTIN - eine WAHRE GÖTTIN ***